Bundespräsident Horst Köhler äußerte sich im Gespräch mit Andreas Braun, der das Interview für die „Sonntag Aktuell“ führte, über die Krise, Gefahren für die Demokratie, notwendige Regeln für die internationale Finanzwelt, das Grundgesetz und die Globalisierung.
Andreas Braun: Herr Bundespräsident, ist Theodor Heuss ein Vorbild für Sie?
Horst Köhler: Ja. Durch seine Bürgernähe. In einer Demokratie ist das Volk der Souverän. Bürgernähe ist der Ausdruck dieses Bewusstseins. Das hat Theodor Heuss vorgelebt.
Andreas Braun: Heute ist das nicht mehr unbedingt selbstverständlich…
Horst Köhler: Das macht mir Sorge. Es gibt zu häufig eine Kluft zwischen politischen Entscheidungen und den Bürgern. Diese Frage stellt sich auf nationaler, mehr noch auf europäischer Ebene. Damit diese Kluft überwunden werden kann, müssen die Bürger erkennen, wissen, erleben: Die Demokratie, das sind wir selber.
Andreas Braun: Und sie müssen sich von selber engagieren…
Horst Köhler: Ja, sie sollten die vielen Möglichkeiten zur Mitgestaltung nutzen, in Parteien, Initiativen, in den Kommunalparlamenten. Mir ist es wichtig, den Bürgern zuzuhören. Gar nicht mit dem Ziel, zu sagen: Du hast recht. Sondern weil ich wissen will, was sie denken, welche Ideen und Sorgen sie haben. Die Bürger haben einen Anspruch darauf, ernst genommen zu werden. Und ich habe gelernt: Es gibt so etwas wie Volksklugheit. All das bündelt sich für mich in dem Begriff Bürgernähe. Deshalb strebe ich danach, diesem Gedanken gerecht zu werden.
Andreas Braun: Horst Köhler, der Bürgerpräsident?
Horst Köhler: Ich kann mir meine Aufgabe anders gar nicht vorstellen. Meine Kraft für das Amt speist sich daraus, dass ich die Möglichkeiten finde, mit den Bürgern zusammenzukommen.
Andreas Braun: Gibt Ihnen das Protokoll dafür genug Gelegenheiten?
Horst Köhler: Ehrlich gesagt: nicht immer. Mitunter muss man auch ein wenig gegen das Protokoll…
Andreas Braun: …revoltieren?
Horst Köhler: Ja. Aber das Protokoll hilft auch. Über manches muss man sich nicht mehr selbst den Kopf zerbrechen. Wichtig ist aber, dass man nicht im Protokoll erstarrt. Zu einer lebendigen Demokratie gehört auch Spontanität.
Andreas Braun: Gelegentlich wurde Ihnen schon der Vorwurf gemacht, Sie seien ja populär, agierten aber politik- und parteifern.
Horst Köhler: Unsere Verfassung will, dass der Bundespräsident sein Amt überparteilich ausübt. Das Schöne ist: Jeder Bundespräsident hat sich daran gehalten, ohne nachschlagen zu müssen. Weil jeder in diesem Amt spürt, dass er fürs Ganze steht. Auf die Menschen zugehen, das ist für mich Teil meiner Aufgabe. Denn für viele Menschen ist der Bundespräsident etwas Fernes, scheinbar Übergroßes, und deshalb sind sie zurückhaltend. Damit sich erst gar keine Erstarrung verfestigen kann, spreche ich mit den Leuten und höre ihnen zu. Ich will helfen, Barrieren zu überwinden.
Andreas Braun: Und die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen: Zurzeit sorgen sich viele wegen der düsteren wirtschaftlichen Aussichten.
Horst Köhler: Es gibt Grund zur Sorge, und Schönfärberei ist nicht meine Sache. Im Kern bin ich aber zuversichtlich. Ermutigung muss allerdings glaubhaft, Optimismus mit Realismus gepaart sein. Die kommende Zeit wird sicher schwierig, aber wenn wir uns anstrengen und um die richtigen Antworten auf die Herausforderungen ringen, dann werden wir es schaffen. Wir haben in der Geschichte dieses Landes schon oft vor schwierigen Herausforderungen gestanden.
Andreas Braun: Kann die Krise eine Chance sein?
Horst Köhler: Ja. Ausgelöst wurde die Krise vor allem durch menschliches und moralisches Versagen, auch durch fehlende Regeln. Jetzt geht es darum, den Schaden zu begrenzen und Banken und Finanzmärkten bessere Regeln zu geben. Wenn wir aus Fehlern lernen, können wir neue Stärke gewinnen.
Andreas Braun: Sie waren selbst lange in der Finanzwelt – hätten Sie all das für möglich gehalten?
Horst Köhler: Wegschauen war viel zu lang der Trend, weil alle gut verdienten. Man glaubte, die Bäume wachsen in den Himmel. Das ging bis zur Frivolität. Warnungen wurden in den Wind geschlagen, auch meine. Ich hätte es vor allem nicht für möglich gehalten, dass bei den Finanzprofis das Risikobewusstsein so abstumpfte.
Andreas Braun: Braucht es ein neues Regelwerk?
Horst Köhler: Ja. Erstens, damit sich eine solche Krise nicht wiederholt. Das Primat der Politik über die Finanzmärkte muss wiederhergestellt werden. Zweitens, weil wir erkennen müssen, dass wir alle aufeinander angewiesen sind: Schwellenländer, arme Länder und reiche Länder. Das Kapital muss den Menschen dienen und nicht die Menschen dem Kapital. Ich bin für eine Marktwirtschaft, die von der Erkenntnis lebt, dass alle in einem Boot sitzen.
Andreas Braun: Das wird nicht leicht.
Horst Köhler: Nein. Das verlangt Arbeit und Stehvermögen. Denn es geht darum, ein Umdenken zu erreichen. Dabei wird nicht einmal ein perfektes Regelwerk individuelles Fehlverhalten verhindern können. Deshalb braucht der Markt auch Moral. Sie muss auch von unserer Wirtschaftselite als Verpflichtung erkannt werden. Glaubwürdigkeit ist der Schlüssel zum Aufschwung.
Andreas Braun: Die Welt ist klein geworden. Verschieben sich auch die Gewichte? Müssen die reichen kapitalistischen Länder etwas abgeben, Zugeständnisse machen?
Horst Köhler: Die Gewichtsverschiebung ist schon in vollem Gang. Deshalb müssen wir in Europa aber nicht ärmer werden.
Andreas Braun: Es gilt immer noch der Wettbewerb?
Horst Köhler: Nichts würde besser ohne Wettbewerb. Aber es fängt damit an, dass all diejenigen, die fleißig, ob nun in Asien oder in Afrika, im Wettbewerb ihre Chance bekommen müssen. Manche Regeln sind immer noch so, dass sie diese Chancen hemmen, zum Beispiel durch Handelsrestriktionen.
Andreas Braun: Also doch Zugeständnisse?
Horst Köhler: Es geht um Fairness im Wettbewerb. Und wir müssen uns Gedanken machen über unseren Lebensstil. Umweltschäden und Klimawandel machen vor keiner Grenze halt. Ausgelöst werden sie durch immensen Rohstoffverbrauch und Schadstoffemissionen, vor allem in den Industrieländern. Was ist das: Glück? Brauche ich dazu immer mehr Autos, TV -Programme, Urlaubsreisen? Vielleicht ist mehr Aufmerksamkeit für immaterielle Werte nötig, für den Nachbarn, für die Gemeinschaft, in der ich lebe, für ihre Kultur.
Andreas Braun: Der strenge Marktwirtschaftler würde jetzt einhaken und die Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums unterstreichen.
Horst Köhler: Demokratie und Marktwirtschaft bieten den Menschen vor allem Freiheit und Eigenverantwortung. Aber die Demokratie ist keine Glücksversicherung, haben wir bei Theodor Heuss gelernt. Marktwirtschaftliche Politik darf sich nicht allein von Wirtschaftswachstum abhängig machen, nach dem Motto: Wir brauchen mindestens drei Prozent Wachstum, damit alle zufrieden sind. Demokratie ist mehr als die Sicherstellung materieller Zuwächse. Wir wollen nicht nur gute Demokraten sein, solange wir reich genug dafür sind.
Andreas Braun: Lieber ein qualitatives Wachstum?
Horst Köhler: Unser Wachstumsbegriff ist in der Tat zu sehr am rein quantitativen Mehr ausgerichtet. Ich bin sicher, in spätestens 20 Jahren wird das „Sozialprodukt“ ganz anders definiert sein und zum Beispiel Umweltstandards einschließen. Produktionsziffern reichen nicht aus, um Erfüllung, Zufriedenheit und Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu messen.
Andreas Braun: 60 Jahre Grundgesetz – was bedeutet das?
Horst Köhler: Es bedeutet: Wir haben unsere Begabung zur Freiheit gezeigt und eine stabile Demokratie und einen verlässlichen Sozialstaat aufgebaut. Mit dem Artikel 1 haben wir eine Antwort auf das Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten gegeben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das hat sich ins Bewusstsein, ja sogar in die Seele der Deutschen geprägt.
Andreas Braun: Ist das Grundgesetz nicht auch so faszinierend, weil es klar und knapp ist?
Horst Köhler: Deshalb verdient es auch Ruhe. Je mehr wir es mit weiteren Einzelbestimmungen überfrachten, desto mehr laufen wir das Risiko, die eigentlichen Wertegrundlagen unseres Gemeinwesens zu relativieren.
Andreas Braun: Bodenhaftung in Zeiten der Globalisierung?
Horst Köhler: Es ist einfach gut zu wissen, wo man zu Hause ist, wo die Wurzeln sind. Globalisierung ohne das Bewusstsein für die Heimat, also für Landschaft und Geschichte, Bräuche, Mundart, Küche – da würde etwas fehlen. Heimatbewusstsein und Weltoffenheit zusammen geben Sicherheit und Chancen.
Geschrieben von Bernhard Stein, Kategorie: Portraits